Start Ratgeber Ratgeber Ernährungstherapie „Wenn der Hunger verloren geht“

„Wenn der Hunger verloren geht“

Professor Albert Wettstein ist Mitglied der Leitung des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich und seit langem in der Altersforschung tätig. Mit uns spricht er darüber, warum Mangelernährung gerade im Alter zum Problem wird und was Ernährung mit Selbstbestimmung zu tun hat.

Redaktion: Wie hängen Fettleibigkeit, Magersucht und Mangelernährung eigentlich zusammen?

Albert Wettstein: Streng genommen überhaupt nicht. Adipositas und Anorexie sind Suchterkrankungen. Hingegen ist Mangelernährung, wie der Name schon sagt, ein Problem der falschen Ernährung. Das kann Über- oder Untergewichtige ebenso betreffen wie normalgewichtige Personen.

Was genau bedeutet der Begriff „Mangelernährung“?
Er beschreibt einen qualitativen Mangel an Nährstoffen. Dabei sind es meistens die Eiweiße, die fehlen. Bei älteren Menschen kommt das besonders häufig vor.

Gerade im Alter ist Mangelernährung ein Problem

Heißt das, ältere Menschen ernähren sich schlechter als junge?
Das ist Unsinn. Die Unterschiede sind marginal. Allerdings verändert sich mit den Jahren der Stoffwechsel. Viele ältere Menschen haben einfach weniger Hunger. Dazu kommen Kau- und Schluckbeschwerden, oder aber der Geschmackssinn lässt nach. Zudem schränken Krankheiten wie Demenz und Arthrose die Betroffenen in ihrer Motorik ein. Da kann einem dann schon mal der Appetit vergehen.

Interview zum Thema Mangelerhährung
Foto: privat

Können Sie das konkreter beschreiben?
Wenn ich meine Finger nicht mehr gut bewegen kann, fällt es mir schwer, mein Essen zu schneiden und mit Messer und Gabel umzugehen. Bereitet mir dann noch das Kauen Probleme, kann das Essen anstrengend werden. Außerdem essen viele Ältere einfach zu viel Süßes. Ein Stückchen Schoki ist ja schnell mal in den Mund geschoben, doch ist es auch hier die Menge, die es macht.

Es ist also wieder die Schokolade, die schuld ist.
Eigentlich nicht. Marzipanpralinen und Marmeladenbrötchen funktionieren genauso gut – oder schlecht. Auch sie sind weich, lassen sich gut kauen und schmecken. Das ist auch alles absolut in Ordnung. Nur, wenn man eh schon zu wenig isst, und dann noch das Eiweiß durch Zucker ersetzt, hat das Konsequenzen.

Woran erkenne ich, dass jemand mangelernährt ist?
Der Mangel an Eiweiß führt dazu, dass die Muskeln an Masse verlieren. Ein wichtiger Indikator ist also die Kraft. Der einfachste Test: Kann die betroffene Person noch alleine vom Stuhl aufstehen? Und zwar nicht von einem niedrigen, sondern von einem ganz normalen, bei dem sich die Oberschenkel im rechten Winkel zum Boden befinden. Schafft sie das nicht mehr alleine, sollte man beim Arzt ein Blutbild machen lassen.

Ursachen und Lösungswege

Und was tue ich, wenn sich der Verdacht auf Mangelernährung bestätigt?
Erst einmal sollte man mit der Person reden und schauen, wo die Ursache für die falsche Ernährung liegt. Ist es einfach der fehlende Appetit, liegt es an der Motorik, sitzt das Gebiss nicht richtig oder gibt es vielleicht Anzeichen für eine Depression? Viele ältere Menschen leben allein und sie essen auch allein. Essen hat jedoch etwas mit Gemeinschaft und sozialer Teilhabe zu tun. Das darf man nicht vergessen.

Was halten Sie von Trinknahrung?
Es gibt eine Vielzahl von Studien, die zeigen, dass solch hochkalorische Flüssignahrung sehr hilfreich sein kann. Ich glaube jedoch, dass es besser ist, wenn man den Betroffenen hilft, sich aktiv mit ihrer Ernährung auseinanderzusetzen. Es geht darum, Strategien zu entwickeln und dabei auch auf ihre Vorlieben einzugehen. Wer kein Spiegelei mag, für den ist vielleicht das Omelett eine Alternative.

Und Vitaminpräparate?
Die sind unnötig. In der Regel fehlt den Älteren das Vitamin D. Klar kann man hierfür Tabletten kaufen. Man kann aber auch einfach in die Sonne gehen. Bewegung und frische Luft tun insgesamt gut und regen zudem den Appetit an.

In unserer Gesellschaft ist Ernährung ein Lifestyle-Thema. Brauchen wir eine solche Entwicklung auch für die Alten?
Bio-Produkte und Tofu-Burger sind sicher nicht schlecht. Aber im Alter geht es doch um eine andere Komponente: Essen hat viel mit Autonomie, mit Selbstbestimmung zu tun. Wenn meine Kraft durch eine Mangelernährung nachlässt, bin ich schneller auf die Hilfe anderer angewiesen. Fragen des „Lifestyle“ spielen da eine sehr untergeordnete Rolle. Worum es allerdings geht, ist die grundsätzliche Qualität meines eigenen Lebens.

 

Weitere Informationen finden Sie auch bei der Initiative Fit im Alter – Gesund essen, besser leben. Sie wird vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gefördert.

Cookie Consent Banner von Real Cookie Banner